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Ein Bild, das bleibt – zwischen Hinsehen und Erlaubnis

  • Autorenbild: CHICOCIHAN
    CHICOCIHAN
  • 16. Dez.
  • 2 Min. Lesezeit
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Es gibt Aufnahmen, die lassen einen nicht los. Nicht, weil sie laut sind oder provozieren, sondern weil sie etwas zeigen, das im Alltag allzu oft übergangen wird.

Dieses Bild ist eines davon.


Ich bin eine Weile mitgegangen. Nicht aus Neugier, sondern aus innerer Unruhe. Die Entscheidung, die Kamera überhaupt zu heben, fiel mir nicht leicht. Im Gegenteil: Sie war begleitet von Zweifel und einem schwer einzuordnenden Gefühl von Schuld. Vielleicht, weil man spürt, dass man einen Moment festhält, der eigentlich Schutz verdient.


Das Kind schlief. Erschöpft. Friedlich. In einer Umgebung, die nicht für Ruhe gedacht ist, sondern für Last. Die Mutter sammelte Karton. Still, konzentriert, zielgerichtet. Keine Geste der Klage, kein sichtbarer Protest. Arbeit, wie sie seit Generationen getan wird, wenn es keine Alternativen gibt. Würdevoll, aber hart.


Viele Menschen gingen vorbei. Routiniert. Eilig. Vielleicht nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Gewohnheit. Der urbane Alltag ist darauf trainiert, weiterzugehen.

Ich konnte es nicht.


Dieses Bild ist keine Anklage. Es richtet sich nicht gegen „die anderen“. Es ist eine nüchterne Bestandsaufnahme. Eine Erinnerung daran, dass Armut kein abstrakter Begriff ist, sondern ein Zustand, der mitten unter uns stattfindet. Sichtbar – wenn man hinsieht.

Fotografie war immer mehr als Technik. Sie war Zeugenschaft. Früher wie heute. Nicht um zu inszenieren, nicht um zu beschämen, sondern um festzuhalten, was sonst verschwindet.

Und genau an diesem Punkt drängt sich ein Thema auf, das viele Fotografen heute begleitet – und zunehmend lähmt: die DSGVO.


In ihrer Intention ist sie richtig. Der Schutz der Persönlichkeit, der Privatsphäre, der Würde. Diese Werte waren auch vor der DSGVO fester Bestandteil verantwortungsvoller Fotografie. Dokumentarisches Arbeiten bedeutete immer Abwägung, Zurückhaltung und Respekt.

Neu ist jedoch die permanente Unsicherheit. Die rechtliche Grauzone. Die Angst vor Auslegung, Abmahnung und Sanktion.


Sie verschiebt die Fragestellung grundlegend:Nicht mehr

Ist dieses Bild notwendig? Sondern: Darf ich das überhaupt?

Damit entsteht ein strukturelles Problem.


Fotografie hatte immer auch die Aufgabe, sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bleibt. Soziale Realität, Armut, Arbeit am Rand der Gesellschaft – all das wurde historisch nicht durch Hochglanz verstanden, sondern durch dokumentarische Bilder. Diese Bilder waren unbequem. Und genau deshalb waren sie relevant.


Heute geraten Fotografen in einen Widerspruch:Zwischen dem gesellschaftlichen Auftrag, hinzusehen, und einer Regulierung, die faktisch zum Wegsehen erzieht.

Was nicht dokumentiert wird, existiert nicht im öffentlichen Bewusstsein.Was nicht gezeigt wird, kann nicht verhandelt werden.Und was nur noch genehmigt, entschärft und rechtlich abgesichert gezeigt werden darf, verliert seine Kraft.


Dieses Bild wäre – rein formal – angreifbar. Nicht, weil es respektlos ist. Sondern weil es Realität zeigt. Eine Realität, die sich nicht vorher anmelden kann, keine Einwilligung formuliert und keinen sauberen Rahmen liefert.


Die entscheidende Frage ist daher weniger juristisch als gesellschaftlich:Wollen wir eine visuelle Kultur, die nur noch das zeigt, was glatt, konfliktfrei und folgenlos ist? Oder brauchen wir weiterhin Fotografen, die dokumentieren, was ist – nicht, was bequem ist?


Dieses Bild macht traurig. Ja.Aber es erinnert auch an etwas Grundsätzliches: Verantwortung bedeutet nicht nur Schutz, sondern auch Zeugenschaft.

Manchmal ist das Einzige, was bleibt, das Nicht-Wegsehen.



Fotografie war nie dafür da, bequem zu sein.

Sie war immer Verantwortung.

Wenn wir aufhören, das festzuhalten, was uns berührt und beunruhigt – nicht weil es falsch ist, sondern weil es kompliziert geworden ist –, dann akzeptieren wir schleichend ein Verschwinden.


Nicht von Bildern.

Sondern von Wirklichkeit.


CHICOCIHAN

 
 
 

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